Rede von Oberbürgermeister Ulrich Maly zum Neujahresempfang der Stadt Nürnberg

Der Wert der Freiheit

  • von  Redaktionsteam
    10.01.2013
  • Beiträge, Maly

Freiheit - der große Begriff der Menschheitsgeschichte, der Begriff für Hunderte von Millionen Menschen in aller Welt, die sich nach ihr sehnen, und ein Begriff, der Politik und politische Debatte oft polarisierend geprägt hat.
Die Freiheit der Märkte, die Freiheit des Internets, die Freiheit für Nelson Mandela, die Freiheit von Angst - ganz viele verschiedene Freiheiten. Stadtluft soll frei machen - warum eigentlich?
In der allgemeinen Menschenrechtsdeklaration heißt es: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."
Da klingt noch John Locke an, der Vater des modernen Naturrechts. Mit ihm hatte sich die Vorstellung herausgebildet, der Mensch habe von Geburt an Rechte, die ihm niemand, auch nicht der Staat, nehmen und die er auch nicht selbst veräußern kann.
In dieser naturrechtlichen Betrachtung stellte sich die Frage, welche mögliche Verteidigung die Menschen gegen eine Verletzung dieser Rechte durch den Staat haben würden. Und es wurde dem wiederum ein Naturrecht entgegengesetzt: das Recht auf Widerstand gegen staatliche Unterdrückung. Die Lehre der Weltkriege des 20. Jahrhunderts ist: Nur die Ausweitung des Schutzes der Menschenrechte auf alle Staaten und seine Absicherung durch eine den Staaten übergeordnete Instanz, nämlich die internationale Gemeinschaft, würde die Alternative Unterdrückung oder Widerstand aufheben können. In diesem Sinn wandelte sich das Staatsverständnis. Der neue Staat war nicht mehr absolut, sondern begrenzt, kein Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung von Zielen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geht diesen Weg vom Naturrecht hin zum positiven Recht. In ihrer Präambel heißt es, es sei notwendig, "die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, damit der Mensch nicht gezwungen wird, als letztes Mittel zum Aufstand gegen Tyrannei und Unterdrückung zu greifen."
Eine Demokratie braucht beides, die ethische Akzeptanz dieser "unveräußerlichen" Menschenrechte, ein positives Recht, in dem diese explizit als Bürgerrechte gewährt und geschützt werden, und eine Rechtskultur, die die Gesetze diskriminierungsfrei anwendet.
Was das mit Nürnberg zu tun hat? Sehr viel. Das Urteil von Nürnberg, das politische und rechtsgeschichtliche Erbe der Nürnberger Prozesse und die Erfahrung zweier Weltkriege im vergangenen Jahrhundert haben die Erkenntnis geprägt, dass es ohne eine überstaatliche Kontrollinstanz nicht gehen wird.
Unsere Menschenrechtsarbeit, unser Engagement für eine Erinnerungskultur folgt dieser Idee. Unsere Aktivitäten für eine UN-Akademie führen das Urteil von Nürnberg und damit den universellen Schutz der Menschenrechte in die Zukunft fort.
Ich will an dieser Stelle Dr. Oscar Schneider für seine unermüdlichen Aktivitäten meinen tiefen Dank aussprechen.

Es geht um das Verhältnis zwischen Mensch und Staat und wie es sich wandelt. Norberto Bobbio, der italienische Philosoph, bringt es auf den Punkt:
"Wie allgemein bekannt ist, vollzog sich die Entwicklung der Menschenrechte in drei Phasen. Zunächst wurden die Freiheitsrechte eingefordert: die Rechte, die auf die Einschränkung der Staatsmacht abzielen und dem Individuum oder besonderen Gruppen eine Sphäre der Freiheit vom Staat verschaffen. In einem zweiten Schritt sind politische Rechte lanciert worden, in denen die Freiheit nicht mehr nur negativ als Nicht-Behinderung, sondern auch positiv als Autonomie definiert wurde. In der Konsequenz wurden die Mitglieder einer Gemeinschaft immer häufiger an der politischen Machtausübung beteiligt (Freiheit im Staat). Schließlich wurden die sozialen Rechte proklamiert, in denen sich neue Bedürfnisse, wir können ruhig auch sagen: Werte, ausdrücken, wie beispielsweise Wohlstand und nicht nur formelle Gleichheit. Hier könnte man von Freiheit durch oder mit Hilfe des Staates sprechen."
Die Freiheit vom Staat, die Freiheit im Staat - oder heute würde man vielleicht sogar formulieren: die Freiheit zum Staat und die Freiheit durch den Staat oder mit Hilfe des Staates.
Was das mit uns zu tun hat, liegt auf der Hand. Ist die Freiheit vom Staat auch die der Finanzmärkte, die derjenigen in Brüssel, die via Vergaberecht eine Privatisierung der Wasserversorgung in Deutschland vorantreiben wollen? Das wäre so sicher falsch verstanden.
Die Freiheit im Staat, das ist das Thema von Joachim Gauck, auch die Freiheit zum Staat. Die autonome Entscheidung der Menschen, sich zu organisieren auch in der Stadt, als Gemeinwesen, ist die Freiheit zum Staat. Das war auch vor einem Jahr mein Thema, als ich darüber sprach, dass Politik immer auch Zumutungen beinhalten würde, dass das allgemeine Wohl immer mehr und oft etwas anderes sei als das individuelle Optimum.
Die Freiheit zur Stadt ist der freiwillige Verzicht auf das Optimum zu Gunsten eines größeren Ganzen.
So geatmete Stadtluft macht frei, kulturell und ökonomisch.
Das mittelalterliche und "vorbayerische" Nürnberg war zwar eine Klassengesellschaft aus Handwerkern und Patriziern, aber es ist als europäische Stadt mit dieser Geschichte ein gutes Beispiel für die mehrheitliche bewusste autonome Entscheidung zur Stadt. Wenn es so etwas wie kollektives Bewusstsein, besser: kollektives Selbstbewusstsein gibt, eine städtische Identität also, dann wurzelt es hier.
Die Freiheit durch oder mit Hilfe des Staates schließlich ist konstitutiv für die Bundesrepublik Deutschland.
Die soziale Marktwirtschaft, das, was uns immer vom stärker marktliberal ausgerichteten anglo-amerikanischen Wirtschaftsmodell unterschieden hat, hat ihren festen Platz in der Herzensgeographie der Deutschen. Das mit der sozialen Marktwirtschaft verbundene Versprechen auf Aufstieg, unabhängig vom Einkommen und der Stellung der Eltern, die gegebene Sicherheit, dass soziale Absicherung da ist, wenn man sie mal brauchen sollte, die Sozialverpflichtung des Eigentums nach Artikel 14 Grundgesetz: Mag sein, dass die Mehrheit der Menschen das nicht spontan aufsagen könnte, ein mehrheitliches Lebensgefühl ist das aber schon. Und das Schlimme ist: Die Mehrheit der Menschen sieht es als bedroht an.
Ich brauche Ihnen hier nicht alle Statistiken und Untersuchungen über Einkommens- und Vermögensaufteilung herunterbeten, auch nicht die über den Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg von Kindern und dem Geldbeutel der Eltern und schon gar nicht die über Kinderarmut in Nürnberg. Die kennen Sie alle.
Der französische Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau hat - in Reaktion auf die Naturrechtler - formuliert: "Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten."

Natürlich liegt bei uns niemand in Ketten, aber mancher trägt schon unsichtbare Fesseln.
Was ist staatliche Aufgabe in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft? Wie viel Freiheit kann durch den Staat entstehen?
Im Rathaus entscheiden wir weder über die Einkommens- noch über die Vermögensverteilung, ja noch nicht mal über die Regelsätze der sozialen Grundsicherung.
Und trotzdem findet eine Grundsatzentscheidung immer vor Ort, hier bei uns statt: die über Teilhabe oder Ausgrenzung.
Deshalb investieren wir in Schulen und Kindertagesstätten als "Gerechtigkeitsinfrastruktur":
69,0 Millionen Euro in den nächsten vier Jahren für Krippen, Kindergarten und Horte;
120,6 Mio. Euro im gleichen Vierjahreszeitraum für Schulen - noch ohne Bertolt-Brecht-Schule und Schulzentrum Südwest;
183,7 Millionen Euro im Mittelfristigen Investitionsprogramm für U-Bahn und Straßenbahn - auch Massenmobilität ohne eigenes Auto hat etwas mit Teilhabe oder Ausgrenzung zu tun.
Die Frage, ob wir die Voraussetzungen dafür geschaffen haben, dass wir aus jedem kleinen Nürnberger das Beste rausholen, ob wir jeder armen Nürnbergerin Teilhabe ermöglichen oder ob wir Vorsorge getroffen haben, dass genügend Arbeitsplätze und Ausbildungsmöglichkeiten vorhanden sind, das ist schon eine Frage der Freiheit durch den Staat, die Stadt in unserem Fall.
Sehr geehrte Damen und Herrn, und da bin ich wieder beim Thema vom vergangenen Jahr, nämlich der Frage des Bildes, der Erzählung der Stadt.
Der Zugang über die Menschen- und Freiheitsrechte normiert abstrakt die untrennbaren Zwillinge von Freiheit und Verantwortung, er gewährt den Menschen Schutz und Sicherheit durch die Stadt und in der Stadt, er organisiert via Goldener Regel das Zusammenleben vieler auf dichtem Raum. Aber das reicht nicht.
Salvatore Settis, ein italienischer Archäologe, hat am Beispiel Venedigs eine Philippika für das europäische Modell der menschengemäßen Stadt formuliert: "Ähnlich wie Alzheimerkranke neigen auch Städte dazu, ihre Würde zu vergessen, sobald sie ihr kollektives Gedächtnis verlieren." Die Formulierung gefällt mir. Wenn ich Gästen Nürnberg vorstelle, verweise ich immer auf drei genetische Fingerabdrücke unserer Stadt: das spätmittelalterliche Nürnberg und das der Renaissance als eine Quelle unseres kollektiven Erinnerns an die weltweiten Handelsaktivitäten, die erfolgreichen Manufakturen, an die Zeit als künstlerisch-politisches und intellektuelles Zentrum Europas.
Gerade auch deshalb - nicht nur wegen der fabelhaften Präsentation - war die Dürer-Ausstellung samt ihrem Rahmenprogramm im vergangenen Jahr so gut: Sie ging auf die Netzhaut und unter die Haut der Stadtgeschichte.
Der zweite genetische Fingerabdruck ist die Industrialisierung. Was mit der ersten deutschen Eisenbahn begann und bis in die Wirtschaftswunderzeit reichte, ist mehr als nur Nürnberger Stadtgeschichte gewesen.
Wenn wir heute über die Chancen diskutieren, die sich aus den ökonomischen Krisen im Nürnberger Westen ergeben, ist die Geschichte dieser Lebensachse zwischen Nürnberg und Fürth Leitlinie für neue Entwicklungen. Die AEG-Hallen, das TA-Gelände und auch das Quelle-Versandzentrum gehören zu unserem kollektiven Gedächtnis. Neues wie der Datev-Neubau, Historisch-dokumentarisches wie das Memorium, Zukunftsweisendes wie die UN-Akademie hat genau dort ebenso seinen guten Platz wie eine urbane Nutzung des denkmalgeschützten Quelle-Komplexes. Gerade dort könnte mit einem neuen Campus, der das kollektive Gedächtnis des Ortes respektiert, eine Perlenschnur von wissenschaftlichen Einrichtungen entstehen, die von der Uferstadt in Fürth bis zu den Ohm-Gebäuden am Wöhrder See reicht.
Mit U-Bahn und Stadtumlandbahn werden all diese Einrichtungen verkehrstechnisch bestens vernetzt sein.
In solchen Entwicklungen jenseits der Reichweite der eigenen Kirchtürme materialisiert sich die Grundidee der Metropolregion. Die Idee einer städteübergreifenden strategischen Allianz war es, die uns geleitet hat, um unsere Position im weltweiten Wettbewerb der Regionen zu verbessern.
Der dritte genetische Fingerabdruck ist die Zeit zwischen 1933 und 1945 zwischen "Nürnberger Gesetzen" und Nürnberger Prozessen. Auch das gehört zum kollektiven Gedächtnis und ich denke, wir können mit leisem fränkischem Stolz sagen, dass unser Nürnberger Weg der Erinnerungskultur beispielgebend für andere ist.
Sehr geehrte Damen und Herrn, jetzt käme der Werbeblock, den ich kurz halte, weil Sie das alles selber wissen:
2012 Nettoschuldenabbau, Nahverkehrsentwicklungsplan, ein durchfinanzierter Ausbau des Frankenschnells - Danke nochmal dafür an die Staatsregierung, insbesondere an die Minister Söder und Herrmann -, knapp 300 Hektar Gewerbeflächen, die naturschonend durch Recycling mobilisiert werden konnten, marktentspannender Wohnungsneubau auf dem ATV- Gelände, am Nord- und Nordostbahnhof, auf dem Tuchergelände, im Heumann-Areal, eine funkelnagelneue Zentralbibliothek, das Dr.-Theo- Schöller- Haus, das wir in wenigen Tagen offiziell einweihen können, gesunde und muntere Töchter der Stadt, die uns fast alle Freude machen - und beim Flughafen sehe ich uns auf einem guten Weg.
Sehr geehrte Damen und Herrn, 2013 wird im Bund und in Bayern gewählt. Das wird die Lautstärke der Debatten und die Umlaufgeschwindigkeit des politischen Betriebs erhöhen, manchmal auch die des politischen Blödsinns.
Vielleicht bedenken wir manchmal, dass es in allen demokratischen Parteien grundsätzlich um das rechte Verhältnis zwischen Freiheit vom Staat, Freiheit im Staat und Freiheit durch den Staat geht und nicht um Posten oder Karrieren.
Es hängt auch und gerade von unserem eigenen politischen Auftreten ab, ob diese Wahlen als sinnentleertes Ritual oder als "lustvolles Hochamt" der Demokratie betrachtet werden.
Ich wünsche Ihnen allen Glück, Gesundheit und Optimismus für 2013, alles andere kommt dann von selber.
Lassen Sie uns gemeinsam die "Würde" der Stadt bewahren und unser schönes Nürnberg in die Zukunft entwickeln